Lese- und Rechtschreibschwäche bei Kindern
Mara geht gerne zur Schule. Sie ist fleißig und lernt schnell lesen und schreiben. Gegen Ende der ersten Klasse bemerken die Eltern die ersten gravierenden Schwierigkeiten im Rechnen.
Für Mara scheinen Zahlen undefinierbare Zeichen zu sein. Mara begreift nicht, dass hinter jeder Zahl eine bestimmte Menge steht. Sie rechnet immer noch mit den Fingern. Aber eine Aufgabe wie 8+7 kann sie nicht rechnen, da sie ja nur 10 Finger zur Verfügung hat. Und eine Menge von 10 besteht für sie nur aus den Ziffern 1 und 0.
Ihre Mutter übt mit ihr, manchmal 2 Stunden am Tag, jedoch ohne Erfolg. Die Lehrerin rät den Eltern, geduldig zu sein und noch mehr zu üben. Mara geht es immer schlechter. Sie hat morgens Bauchweh und schläft schlecht. Sie ist jetzt in der zweiten Klasse und quält sich durch den Schulmorgen. Sie hat jeden Spaß an der Schule verloren und zieht sich immer mehr zurück.
So wie Mara ergeht es vielen Kindern. Etwa sechs Prozent der Grundschüler leiden unter einer Rechenschwäche – auch Dyskalkulie genannt. Und auch die Welt der Buchstaben bleibt fünf Prozent der Kinder eines Jahrgangs trotz aller Bemühungen ein Labyrinth, in dem alles durcheinander geht. Sie kämpfen mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), bzw. der Legasthenie. Ihnen gelingt die exakte Zuordnung von Buchstaben und Lauten nicht richtig. Sie lassen Buchstaben oder Wörter aus, fügen andere hinzu oder vertauschen ähnlich klingende Buchstaben und lesen oder schreiben langsamer.
Menschen mit LRS (Lese- und Rechtschreibschwäche) oder der Rechenschwäche sind nicht weniger intelligent als andere. Trotzdem werden sie mangels Förderung nicht nur in der Schule, sondern auch im späteren Berufsleben oft benachteiligt. Häufig werden die Störungen nicht erkannt, Betroffene als dumm oder faul abgestempelt. Unter dem täglichen Druck komme es bei Ihnen zu psychosomatischen Beschwerden, Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Erkrankungen.
LRS und Rechenschwäche: Keine Minderbegabung
Treten Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens auf, kann das viele Gründe haben. Im Einzelfall ist eine sorgfältige Prüfung zahlreicher Faktoren aus dem Umfeld des betroffenen Kindes erforderlich. Ganz wesentlich ist es auszuschließen, dass beim betroffenen Kind eine generelle Minderbegabung vorliegt oder physische Beeinträchtigungen gegeben sind wie beispielsweise Schwerhörigkeit oder Sehschwäche. Häufig kommen mehrere ganz individuelle Faktoren als Ursachenbündel zusammen.
Genetische Veranlagung
Doch wie die Störung genau entsteht und welche Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche und der Dyskalkulie zugrunde liegen, ist für die Wissenschaft nach wie vor offen. Bei vielen Betroffenen gibt es wohl eine genetische Veranlagung für die LRS und die Rechenschwäche. Das heißt, das Risiko für die Leistungsstörungen kann vererbt werden. Die neurobiologische Forschung hat gezeigt, dass oft Teilleistungsstörungen des Gehirns für die Probleme verantwortlich sind. Grundlegende Verarbeitungsprozesse, die an der Differenzierung und Verarbeitung von Sprachklängen – phonologische Bewusstheit – beteiligt sind, erfolgen eingeschränkt oder fehlerhaft. Einige Studien berichten auch immer wieder, dass die neuronale Verarbeitung optischer oder akustischer Reize gestört ist und es somit in der Konsequenz zu den Lese- und Rechtschreibproblemen kommen soll.
Seelisch bedingten Ursachen
Ereignisse im schulischen Umfeld wie Lehrerwechsel, Umstellung in der Lehrmethode oder im familiären Umfeld, zum Beispiel Scheidung, Streit in der Familie, könnten ebenfalls Ursache für Lese- und Schreib-Probleme sein oder diese noch verstärken. Familiäre Probleme können bei Kindern zu massiven Depressionen führen, die ihre Schwächen auslösen. Seelische Faktoren werden häufig noch weniger ernst genommen. Oft wirken die Kinder nach außen nicht unbedingt traurig.
Komplexe geistige Vorgänge bewirken die Fähigkeit zum Lesen, Schreiben und auch Rechnen. Starke Ängste und Stress können diese Lernprozesse negativ beeinflussen. Wer aufgeregt ist, sich unter Druck gesetzt fühlt oder Belastungen zu tragen hat, lernt schlechter oder kann das Gelernte nicht oder nur schlecht wiedergeben. Wer aufgeregt ist, macht außerdem mehr Fehler.
In einigen Familien verursachen Erziehungsmethoden die Leistungsblockade. Ängste und Stress können entstehen, wenn Eltern zu hohe Erwartungen an das Kind stellen. Es kann den Ansprüchen nicht gerecht werden, möchte seine Eltern aber auch nicht enttäuschen. Einige Eltern bestrafen ihre Kinder sogar für schlechte Noten. Kein Wunder, dass Kinder die Freude an der Schule verlieren und immer weniger leisten können.
Die betroffenen Kinder bemerken ihre Lern- oder Leistungsschwäche selbst. Wenn Eltern, Lehrer und Klassenkameraden ihnen das Gefühl geben, dumm oder faul zu sein, fühlen sie sich oft sehr verletzt, ihr Selbstvertrauen löst sich auf, sie fühlen sich als Versager. Sie entwickeln richtige Schulphobien. Die Kinder haben Horror vor Klassenarbeiten oder beteiligen sich nicht am Unterricht, weil sie denken, sie würden sich blamieren. Viel werden aus Furcht zur Schule zu müssen richtig krank – bekommen Kopf- oder Bauchschmerzen – oder schwänzen einfach die Schule.
Natürlich können die Schwächen auch selbst die Ursachen für Stress, Ängste und Depressionen sein. Oft lässt sich nicht mehr sagen, ob die psychischen Belastungen die Lern- oder Leistungsstörungen verursachen oder ob die Schulprobleme die seelischen Störungen erst hervorgerufen haben.