Als chronisch psychisch beeinträchtigt gelten etwa fünf Prozent aller Kinder. Weitere fünf Prozent der Kinder sind aufgrund psychischer Störungen dringend behandlungsbedürftig.
Ein 8-jähriger Junge, der seine Mitschüler vermeintlich grundlos schlägt, beißt oder tritt, Erstklässler auf dem Schulweg bedroht und einschüchtert, Spielgeräte zerstört oder teure YuGiOh-Karten aus fremden Ranzen stiehlt, häufig die Lehrerin anlügt, oft wütend und boshaft ist und andere absichtlich verärgert, hat schon in der dritten Klasse keine Freunde mehr und befindet sich im ständigen „Kampf“ mit Eltern und Lehrern. Ihm gelingt es nicht, die zerstörerischen Impulse zu kontrollieren.
„Dissozial-aggressive Störung“ lautet unter Umständen die Diagnose, die gerade bei jungen Kindern sehr ernst zu nehmen ist. Dies wird in dem Beitrag von Wolfgang Ihle und Prof. Dr. Günter Esser zu „Psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter“ deutlich, der Teil des ersten Reports zur psychischen Lage der Nation ist. Herausgegeben wird der Bericht ab 2007 jährlich vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Im Mittelpunkt des ersten Berichts stehen Kinder.
Als chronisch psychisch beeinträchtigt gelten etwa fünf Prozent aller Kinder. Das sind 320.000 junge Menschen. Weitere fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen sind aufgrund psychischer Störungen als dringend behandlungsbedürftig einzuschätzen. Psychische Störungen sind bei Kindern und Jugendlichen mit 18 Prozent in etwa gleich häufig wie bei Erwachsenen. Die häufigsten Störungen sind Angststörungen (10,4%), dissozial-aggressive Störungen (7,5%) sowie depressive Störungen und hyperkinetische Störungen (jeweils 4,4%).
„Die wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz von psychischen und Entwicklungsstörungen des Kindes- und Jugendalters ergibt sich jedoch nicht nur daraus, dass sie häufig sind“, betonen Ihle und Esser. „Vielmehr beeinträchtigen sie die Betroffenen aufgrund ihrer Beständigkeit über die Zeit der wesentlichen Entwicklungsabschnitte hinaus, verringern ihre Lebensqualität und ihre Entwicklungschancen.“
Ursprung im Kindes- und Jugendalter
Ein Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2000 zeigt, dass die Neuerkrankungsrate vieler Erkrankungen wie Depressionen, Sucht, suizidales Verhalten, Essstörungen, psychotische Störungen deutlich von der Kindheit bis zum Jugendalter ansteigt. Die meisten psychischen Störungen des Erwachsenenalters haben ihren Ursprung in Störungen des Kindes- und Jugendalters.
Deshalb sollte, wie Ihle und Esser unterstreichen, „diesem Lebensabschnitt die größte Bedeutung für Prävention und Intervention“ zukommen, was gleichzeitig erhebliche Folgekosten einsparen würde. Die Realität ist jedoch eine andere in Deutschland.
Unterversorgung mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Es fehlen spezifische Ansätze zur Prävention psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen: „Der Bereich der Prävention psychischer Störungen stellt bundesweit relatives Neuland dar, sodass hier bisher keine regelmäßig praktizierten Ansätze vorliegen.“ In der Prävention stärker berücksichtigt werden müsste außerdem, dass psychische Auffälligkeiten häufiger mit einem niedrigen sozioökonomischen Status der Familien verbunden sind.
In der Therapie sieht es nicht besser aus: Neueste Studien ergeben eine eklatante Unterversorgung mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, insbesondere in den neuen Bundesländern: Nach wie vor finden in vielen Regionen psychisch kranke Kinder bzw. ihre Eltern kein angemessenes Psychotherapieangebot oder müssen unzumutbare Wartezeiten in Kauf nehmen. Und dies vor dem Hintergrund, dass es für Eltern und Kind oft ein weiter Weg ist von der Einsicht in das Problem bis zu seiner therapeutischen Bewältigung: Eltern müssen zunächst einmal erkennen, dass ihre Kinder Hilfe brauchen. Sollten sie dann erwägen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, gilt es mögliche Barrieren wie z.B. negative Einstellungen zu überwinden und bereit dazu zu sein, die Therapie in den Alltag zu integrieren. Und dann? Wie soll einer Familie erklärt werden, dass sie nun mehrere Monate auf einen Termin bei einem Psychotherapeuten warten müssten?
Hintergrund dieses Ungleichgewichts: Der Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung beträgt ungefähr 20 Prozent, bei gleicher Häufigkeit psychischer Störungen. „Dagegen erreicht der Anteil der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten an allen psychotherapeutischen Leistungserbringern nur 12,2 Prozent.
Regionale Versorgungsunterschiede sind sehr groß: So kommen derzeit in Sachsen-Anhalt auf einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten 200 000 Einwohner unter 18 Jahren, wohingegen es in Baden-Württemberg 3787 sind. Vor allem in den östlichen Bundesländern gibt es derzeit extrem wenig niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
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