Kinder von psychisch kranken Eltern
Schon lange litt Verena unter Verfolgungswahn. Sie reagierte immer wieder aggressiv auf ihre Umwelt; kein Mensch durfte ihr oder ihrem Sohn Mark zu nahe kommen. Als der Junge zwei Jahre alt war, bekam er das krankhafte Verhalten seiner Mutter hautnah zu spüren.
Sie verbarrikadierte sich mit ihm in der Wohnung und wollte niemanden mehr herein lassen. Dieses Mal war alles viel schlimmer als sonst; auch gutes Zureden von Nachbarn und Angehörigen half nicht mehr. Schließlich kam die Polizei, brach die Wohnungstür auf, überwältigte die sich heftig wehrende, psychisch kranke Frau und führte sie in Handschellen ab. Mark stand daneben, hatte Angst und fühlte sich allein.
„Der Junge hat vielleicht keine ganz präzisen Erinnerungen an den Vorfall, doch ist er stark traumatisiert worden: Solche Ereignisse gehen niemals spurlos an einem Kind vorüber. Zum Glück konnte er damals gleich zu Verwandten, die ihn aufnahmen, als seine Mutter im Krankenhaus war“, erzählt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Christiane Deneke. Als die Oberärztin am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) den kleinen Mark in der „Spezialambulanz für psychisch kranke Eltern mit Säuglingen oder Kleinkindern“ kennen lernte, war er zum einen völlig verängstigt, zum anderen sehr phantasievoll. „Im Spiel verarbeitete er seine Erlebnisse. Mal musste er sich gegen Tiger und Schlangen zur Wehr setzen, mal wurden Dinosauriermütter und ihre Babys angegriffen. Er selbst war meist bis unter die Zähne bewaffnet, um seine Verfolger abzuschütteln.“
Allein mit Ängsten und Nöten
Mark gehört zu einer Gruppe Kinder, die von Experten als die vergessenen bezeichnet werden – sie bleiben mit ihren Ängsten und Nöten weitgehend auf sich gestellt. Kinder, deren Mütter oder Väter von schizophrenen Wahnvorstellungen heimgesucht werden; Kinder, deren Eltern krankhaft ängstlich, depressiv oder unberechenbar sind, deren Persönlichkeit gestört ist und die von einem Moment zum nächsten jemand ganz anderes zu sein scheinen. Die Kinder leiden mit und unter ihren Eltern und kommen dabei selbst zu kurz. Die emotionale Wärme fehlt ganz oder teilweise, ebenso das Gefühl von Geborgenheit, das Kinder so dringend benötigen. Sie verstehen ihre Eltern nicht, haben niemanden, mit dem sie sprechen können, und laufen deshalb selbst Gefahr, seelisch krank zu werden.
Betreuung für die Kinder
„Die Betreuung und psychologische Beratung dieser Kinder gehört in die öffentliche Hand“, sagt Christiane Deneke, „doch fühlt sich hier ganz offensichtlich niemand so richtig zuständig.“ So bleibt es zumeist privaten Einrichtungen, die in den vergangenen Jahren vermehrt gegründet wurden, und persönlich engagierten Ärzten, Therapeuten und Pflegekräften in klinischen Einrichtungen vorbehalten, sich um das Wohl der bis dahin vergessenen Kinder zu sorgen. Das UKE spielt hier eine Vorreiterrolle: Neben der Spezialambulanz gibt es eine Tagesklinik, in der psychisch belastete Mütter und ihre Babys aufgenommen werden.
Der Bedarf ist groß: Etwa jedes dreißigste Kind hat ein psychisch krankes Elternteil; beinahe eines pro Schulklasse. Bundesweit wird die Zahl der betroffenen Kinder auf eine halbe Million geschätzt – mit steigender Tendenz. Ihnen fehlt Aufmerksamkeit und Zuwendung, sie fühlen sich im Stich gelassen und sind desorientiert. Denn weil Mutter oder Vater schon mit den eigenen Problemen überlastet sind, bekommen sie von ihnen auch keine Vorgaben, was richtig oder falsch ist. „Am schlimmsten aber ist für die Kleinen, dass die Eltern nicht auf die Gefühle ihrer Kinder reagieren und sie häufig sehr, sehr einsam sind“, erläutert Dr. Deneke.
Kinder werden selbst psychisch krank
Das hat Folgen. Mindestens jedes vierte Kind, das heute stationär psychiatrisch behandelt wird, hat ein psychisch krankes Elternteil. Das Risiko, später selbst schizophren, neurotisch oder depressiv zu werden, ist um ein Vielfaches höher, wenn schon die Eltern erkrankt sind. Bis zu zwei Drittel der Kinder psychisch kranker Eltern sind hiervon betroffen. Das liegt jedoch nur zum Teil an der erblichen Vorbelastung: Viel schlimmer wirkt sich das alltägliche Chaos in der Familie und die allgemeine psychosoziale Belastung (Isolation, Armut, mangelnde Unterstützung usw.) auf das Seelenheil der Kinder aus, wie viele Risiko-Studien gezeigt haben.
Die elterliche Pein hinterlässt schon bei den jüngsten Kinderseelen Spuren. Wenn Frauen mit ihrer neuen Rolle als Mutter nicht zurechtkommen, sich überfordert fühlen und depressiv werden, geht dies oft zu Lasten der Neugeborenen. Zwar gelingt es vielen, ihren Gemütszustand aus der Mutter-Kind-Beziehung auszublenden. Doch häufig ist die Grundstimmung dem Baby gegenüber negativ, es erfährt zu wenig Hinwendung und Liebe. Deneke: „Schon bei drei Monate alten Kindern können wir Entwicklungsverzögerungen feststellen. Die Kleinen sind passiver und weniger neugierig als ihre Altersgefährten. Sie orientieren sich weniger an ihrer Umwelt und sind stärker in sich gekehrt.“ Andere Neugeborene wiederum, deren Mütter impulsiv mit der eigenen Stimmungslage und dem hilflosen Nachwuchs umgehen, reagieren sehr aufgeregt, mit viel Schreien und Weinen, Schlaf- und Essstörungen. Dies alles sind keine seltenen Phänomene: Verschiedenen Untersuchungen zufolge leiden etwa sechs bis 22 Prozent der Frauen an so genannten postnatalen Depressionen.